Akteneinsicht trotz geheimen Quellcodes in der Akte

Gemäß § 101a UrhG kann der Verletzer auf Vorlage einer Urkunde oder Besichtigung in Anspruch genommen werden, wenn er mit hinreichender Wahrscheinlichkeit das Urheberrecht oder ein anders nach dem UrhG geschütztes Recht widerrechtlich verletzt und dies zur Begründung von Ansprüchen des Rechteinhabers erforderlich ist.

Oberlandesgericht Köln, 6 W 107/16 vom 22.02.2017 – Akteneinsicht trotz geheimen Quellcodes in der Akte

UrhG § 101a I, III; ZPO §935; BGB § 809

Auf die sofortige Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des Landgerichts Köln vom 08.07.2016 – Az. 14 OH 3/15 – abgeändert, soweit das Akteneinsichtsgesuch der Antragsgegnerin zurückgewiesen worden ist und dem Prozessbevollmächtigten der Antragsgegnerin eine Geheimhaltungsverpflichtung gegenüber seiner Mandantin auferlegt worden ist.

Der Antragsgegnerin wird Akteneinsicht bewilligt.

Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst.

Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.

Gründe:

I.

Die Antragsgegnerin hat mit Schriftsatz vom 22.10.2015 unter anderem beantragt, gegen die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Verfügung ohne vorherige mündliche Verhandlung anzuordnen, dass eine Besichtigung durch einen Sachverständigen des sogenannten „Prüfautomaten D. R1“ und „D. R2“ (jeweils eine Softwarelösung für Abrechnungen der Leistungen einer privaten Krankenversicherung) bei der Antragsgegnerin erfolgt, bei der den Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin die Anwesenheit gestattet werden sollte. Die im Einzelnen namentlich genannten prozessbevollmächtigten Rechtsanwälte der Antragstellerin sollten dabei auch – so ausdrücklich der Antrag – gegenüber ihrer eigenen Mandantin und Mitarbeitern zur Verschwiegenheit verpflichtet werden. Weiter hat die Antragstellerin die Durchführung eines selbstständigen Beweisverfahrens beantragt, um feststellen zu können, ob durch die vorgenannten Lösungen die ihr zustehenden ausschließlichen urheberrechtlichen Nutzungsrechte an der von ihr teilweise in Kooperation mit der Antragsgegnerin oder unter Mitarbeit ihres Geschäftsführers Dr. M. entwickelten Software, die ebenfalls für die Vereinfachung der Leistungsabrechnung der von der Antragstellerin betriebenen privaten Krankenversicherung entwickelt wurde, verletzt sind.
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Gegenstand der Antragsschrift waren zahlreiche Anlagen, die die Antragstellerin zur Glaubhaftmachung und zum Vergleich der Softwarelösungen der Parteien im Rahmen des von ihr beantragten Gutachtens der Antragsschrift beigefügt hat. Die Anlagen enthalten unter anderem den Quellcode der Lösung der Antragstellerin, der Ergebnis einer jahrelangen Entwicklungsarbeit und erheblicher Investitionen ist.
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Das Landgericht Köln hat dem Antrag mit Beschluss vom 10.11.2015 (nach Anpassungen durch die Antragstellerin) stattgegeben. Auf den Beschluss vom 10.11.2015 wird Bezug genommen. Die Besichtigung bei der Antragsgegnerin ist in Begleitung eines Gerichtsvollziehers durch die vom Landgericht beauftragte Sachverständige erfolgt, die am 29.03.2016 ein Gutachten erstattet hat.
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Das Landgericht hat den Parteien mit Verfügung vom 22.04.2016 mitgeteilt, dass das Gutachten der Sachverständigen vorliege und der Antragsgegnerin Gelegenheit gegeben, zu etwaigen Geheimhaltungsinteressen Stellung zu nehmen.
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Die Antragsgegnerin hat daraufhin Akteneinsicht beantragt, und einer Herausgabe des Gutachtens an die Antragstellerin oder deren Prozessbevollmächtigten widersprochen. Der Bewilligung von Akteneinsicht an die Antragsgegnerin hat die Antragstellerin widersprochen, weil die vollständige Kenntnisgabe insbesondere der Antragsschrift ihre Geschäftsgeheimnisse verletzte und zudem auch nicht erforderlich sei.
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Mit Beschluss vom 08.07.2016 hat das Landgericht angeordnet, dass das Gutachten den jeweiligen Prozessbevollmächtigten der Parteien zur Kenntnis zu geben sei. Hinsichtlich der Antragstellerin hat das Landgericht die Geheimhaltungsverpflichtung ihres Prozessbevollmächtigten bestätigt. Den Prozessbevollmächtigten der Antragsgegnerin hat das Landgericht gegenüber der Antragsgegnerin zur Geheimhaltung verpflichtet. Dieser Beschluss ist der Antragsgegnerin am 18.07.2016 zugestellt worden.
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Gegen diesen Beschluss des Landgerichts wendet sich die Antragsgegnerin mit ihrer sofortigen Beschwerde vom 29.07.2016, eingegangen bei Gericht am gleichen Tag.
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Die Antragstellerin ist der Auffassung, ihr müsse in vollem Umfang Akteneinsicht bewilligt werden, weil anderenfalls ihr Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt würde.
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Die Antragsgegnerin beantragt,
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1. dem Akteneinsichtsgesuch stattzugeben,
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2. die Unwirksamkeit der Ziffer 4., 2. Absatz, des genannten Beschlusses auszusprechen, hilfsweise die darin ausgesprochene Geheimhaltungspflicht aufzuheben.
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Die Antragstellerin beantragt,
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die sofortige Beschwerde zurückzuweisen.
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Die Antragstellerin ist der Auffassung, ein umfänglicher Anspruch auf Akteneinsicht bestehe nicht. Insoweit müssten ihre Geschäftsgeheimnisse gewahrt werden, was im Rahmen einer Abwägung der sich gegenüberstehenden Grundrechte dazu führen müsse, der Antragsgegnerin die vollständige Einsicht in die Akte zu verweigern.
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II.
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Die sofortige Beschwerde der Antragsgegnerin gegen die Versagung der Akteneinsicht ist zulässig. Insbesondere ist sie statthaft (vgl. Prütting in MünchKomm/ZPO, 5. Aufl., § 299 Rn. 15) und fristgerecht eingelegt worden.
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In der Sache Erfolg hat die Beschwerde Erfolg und führt zu Bewilligung der Akteneinsicht (§ 229 Abs. 1 ZPO) und Aufhebung der Geheimhaltungsverpflichtung des Prozessbevollmächtigten der Antragsgegnerin gegenüber seiner Mandantin.
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Gemäß § 101a UrhG kann der Verletzer auf Vorlage einer Urkunde oder Besichtigung in Anspruch genommen werden, wenn er mit hinreichender Wahrscheinlichkeit das Urheberrecht oder ein anders nach dem UrhG geschütztes Recht widerrechtlich verletzt und dies zur Begründung von Ansprüchen des Rechteinhabers erforderlich ist.
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Dem liegt zugrunde, dass im deutschen Zivilprozessrecht der Beibringungsgrundsatz gilt, also die jeweilige Partei die für sie günstigen Tatsachen vorzutragen hat. Nur in wenigen Ausnahmefällen sieht das deutsche Recht eine Ausnahme hiervon vor (beispielsweise §§ 142, 144 ZPO). Das selbstständige Beweisverfahren dient dabei nicht der Informationsbeschaffung, sondern der Verhinderung des Verlustes von Beweisen. Dies führt dazu, dass ein Rechteinhaber eine Urheberrechtsverletzung im Bereich der Computersoftware in zahlreichen Fällen nicht wird darlegen können, wenn er nicht den Quellcode der Gegenseite kennt (vgl. Wimmers in Schricker, 4. Aufl., § 101a Rn. 1; Ohst in Wandtke/Bullinger, UrhG, 4. Aufl. § 101a Rn. 3). Dementsprechend hat der Gesetzgeber bereits vor Einführung des § 101a UrhG mit dem § 809 ZPO eine Möglichkeit geschaffen, einen Besichtigungsanspruch durchzusetzen. Dies setzte allerdings einen erheblichen Grad einer Rechtsverletzung voraus (vgl. BGH, Urteil vom 08.01.1985 – X ZR 18/84, GRUR 1985, 512 – Druckbalken). In der Entscheidung Faxkarte (Urteil vom 02.05.2002 – I ZR 45/01, GRUR 2002, 1046) hat der Bundesgerichtshof angenommen, dass jedenfalls im Bereich des Urheberrechts nicht allein auf die Wahrscheinlichkeit einer Rechtsverletzung abzustellen sei. Vielmehr beruhe die Vorschrift des § 809 ZPO auf einer Interessenabwägung, weil einerseits dem Rechtsinhaber ein Mittel an die Hand gegeben werden sollte, den Beweis einer Rechtsverletzung erbringen zu können, wenn dies anders nur schwer möglich ist, andererseits aber auch vermieden werden sollte, dass der Besichtigungsanspruch zu einer Ausspähung von Informationen missbraucht wird. Insofern könnten die Geheimhaltungsinteressen des möglichen Verletzers auch dadurch gewahrt werden, dass die Besichtigung durch einen zur Geheimhaltung verpflichteten Dritten erfolgt.
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In der Folgezeit haben das Europäische Parlament und der Rat einen Besichtigungsanspruch in Art. 6 und 7 der Richtlinie 2004/48/EG vom 29.04.2004 zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums normiert, der Art. 43 Abs. 1 des TRIPS-Abkommens umsetzt. Diese europarechtlichen Vorgaben hat der deutsche Gesetzgeber umgesetzt, weil er letztlich nicht der Auffassung war, eine Umsetzung sei aufgrund der Vorschrift des § 809 ZPO überflüssig (vgl. BT-Drucks. 16/5048, S. 27). Dabei hat der Gesetzgeber die in der Entscheidung Faxkarte des Bundesgerichtshofs angenommenen Grundsätze normiert und die Voraussetzungen präzisiert (vgl. Niebel in Büscher/Dittmer/Schiwy, Gewerblicher Rechtsschutz Urheberrecht Medienrecht, 3. Aufl., § 101a Rn. 1).
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Entsprechend der Vorgaben durch die Richtlinie 2004/48/EG und das Trips-Abkommen hat der Gesetzgeber die Geheimschutzinteressen des Antragsgegners ausdrücklich in § 101a Abs. 1 S. 3 UrhG aufgenommen. Insbesondere ist so eine Möglichkeit geschaffen, dass der Antragsgegner sein Geheimschutzinteresse auch im Rahmen des einstweiligen Verfügungsverfahrens vor Aushändigung der Informationen an den Antragsteller geltend machen kann, wobei ein Geheimhaltungsinteresse des Antragsgegners den Besichtigungsanspruch nicht ausschließt. Den gegenläufigen Interessen der Parteien begegnet die Rechtsprechung mit der sogenannten „Düsseldorfer Praxis“. Danach bestellt das Gericht einen zur Verschwiegenheit verpflichteten Sachverständigen und ordnet die Duldung der Besichtigung durch diesen an (vgl. BGH, Urteil vom 16.11.2009 – X ZB 37/08, BGHZ 183, 153 – Lichtbogenschnürung; Wimmer in Schricker aaO, § 101a Rn. 37). Den Geheimhaltungsinteressen des potentiellen Verletzers kann durch andere Maßnahmen (beispielsweise den Ausschluss der Öffentlichkeit, § 172 Abs. 2 GVG) Rechnung getragen werden. Auch kann der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers auch gegenüber diesem gemäß § 174 Abs. 3 GVG zur Verschwiegenheit verpflichtet werden, was die Antragstellerin selbst beantragt hat.
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Hintergrund dieser Möglichkeit ist, dass der Anspruch des Rechteinhabers auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verkürzt werden kann, um ihm damit überhaupt die Möglichkeit zu verschaffen, im Rahmen eines Besichtigungsanspruchs Informationen über die vermutete Rechtsverletzung zu erlangen (vgl. Bornkamm in Festschrift für Ullmann, S. 893, 904 ff).
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Für die Durchsetzung des Besichtigungsanspruchs im einstweiligen Verfügungsverfahren müssen jedoch die Voraussetzungen des Besichtigungsanspruchs glaubhaft gemacht werden. Der Rechteinhaber muss alle ihm zur Verfügung stehenden Beweismittel vorlegen (vgl. Ohst in Wandtke/Bullinger aaO, § 101a Rn. 13).
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Vor diesem Hintergrund besteht für den Anspruchsteller nicht die Möglichkeit, lediglich eingeschränkt vorzutragen oder seinen Anspruch nicht vollständig glaubhaft zu machen. Denn in diesem Fall kann er seinen Anspruch nicht durchsetzen. Wird dem potentiellen Verletzer dieser Akteninhalt nicht bekannt gegeben, wird dessen Anspruch auf rechtliches Gehör eingeschränkt. Auch der Unmittelbarkeitsgrundsatz ist betroffen (vgl. McGuire in GRUR 2015, 424, 428). Das Düsseldorfer Verfahren (s.o.) stellt dabei für den Rechteinhaber keine andere Möglichkeit dar, weil der Antragsteller auf den Besichtigungsanspruch angewiesen ist und daher auf seinen Anspruch auf rechtliches Gehör zur Beschaffung dieser Informationen verzichtet hat, um den Besichtigungsanspruch überhaupt durchsetzen zu können (vgl. McGuire, GRUR 2015, 424, 430 f.; Redeker/Pres/Gittinger, WRP 2015, 811; Rojahn in Festschrift für Loewenheim, 251, 255 f.).
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Der Antragsgegner muss im Gegensatz zum Antragsteller keine Ansprüche darlegen. Er wird sich im Regelfall lediglich gegen die gegen ihn erhobenen Ansprüche verteidigen. Ein Verzicht auf die Ansprüche auf rechtliches Gehör wird von ihm im Regelfall nicht ausgehen.
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Daher würde die Antragsgegnerin bei Verweigerung der Akteneinsicht verpflichtet, auf grundrechtlich geschützte Positionen zu verzichten. Ein solcher Verzicht ist indes nicht gerechtfertigt. So hat auch das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 14.03.2006 (1 BvR 2087/03 und 1 BvR 2111/03, MMR 2006, 375) nur entschieden, unter welchem Voraussetzungen die Deutsche Telekom Betriebsgeheimnisse im Rahmen eines Verwaltungsgerichtsverfahrens, das gegen sie geführt wurde, offenlegen musste. Auch bei der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 27.10.1999 (1 BvR 385/90, NJW 2000, 1175) stellte sich die Frage, inwieweit Dritte, die selbst keinen Anspruch geltend machen, im Verfahren Unterlagen vorlegen müssen. Das Bundesverfassungsgericht ging dabei letztlich zwar davon aus, dass der Konflikt zwischen dem Recht auf effektiven Rechtsschutz und dem Schutz des Geschäftsgeheimnisses grundsätzlich im Rahmen der praktischen Konkordanz aufzulösen ist, es für eine solche Abwägung aber einer gesetzlichen Regelung bedürfe (vgl. MMR 2006, 375 sowie dazu McGuire, GRUR 2015, 424, 431).
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Nach diesen Grundsätzen ist es Sache der Antragstellerin, Ansprüche gegen die Antragsgegnerin geltend zu machen und die notwenigen Tatsachen beizubringen. Sie kann daher selbst entscheiden, ob und in welchem Umfang sie ihre Geschäftsgeheimnisse preisgibt. Eine gesetzliche Regelung, die ihre Geschäftsgeheimnisse in diesem Fall schützt, existiert nicht.
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Letztlich wäre allerdings auch eine sinnvolle Urteilsbegründung kaum möglich, wenn dort die Geschäftsgeheimnisse jedenfalls im Rahmen der Beweiswürdigung des Sachverständigengutachtens zu berücksichtigen sind (vgl. Redeker/Pres/Gittinger, WRP 2015, 811, 814).
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Auch wenn die Berufsfreiheit (Art. 12 GG) der Antragstellerin auch die Wahrung ihre Geschäftsgeheimnisse umfasst (vgl. BVerfG, MMR 2006, 375), begründet dies keinen Anspruch darauf, dass dem Antragsgegner Aktenbestandteile nicht zur Kenntnis gebracht werden (vgl. Rojahn in Festschrift für Loewenheim, S. 251, 255 f.). Dementsprechend kommt auch eine Anordnung der Geheimhaltung des Prozessbevollmächtigten der Antragsgegnerin dieser gegenüber – anders als gegenüber dem Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin – nicht in Betracht.
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Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst (vgl. BGH, Beschluss vom 01.06.2006 – IX ZB 33/04, FamRZ 2006, 1268).
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Die Rechtsbeschwerde war nicht zuzulassen. Die Voraussetzungen des § 574 Abs. 2, 3 ZPO liegen nicht vor.

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